Manchmal können kleine Wunder geschehen

Karlsbad. Tiergestützte Therapien sind nicht etwa ein Modetrend, son­dern ein wir­kungs­vol­les Hilfsmittel, bei­spiels­wei­se in der Ergotherapie. Eine maß­geb­li­che Voraussetzung: sowohl Tier als auch Ergotherapeut sind spe­zi­ell aus­ge­bil­det und qua­li­fi­ziert. „Einen Hund bei der ergo­the­ra­peu­ti­schen Intervention ein­zu­set­zen hilft, die Patienten und Klienten in einen Zustand der Entspannung zu brin­gen und sie so für eine ziel­füh­ren­de Behandlung vor­zu­be­rei­ten; ein Hund kann aber auch Eisbrecher sein oder Möglichkeiten eröff­nen, die zuvor nicht da waren“, erklärt Anja Junkers, DVE (Deutscher Verband Ergotherapie e.V.), den Sinn der tier­ge­stütz­ten Ergotherapie. Sie setzt wie die meis­ten Ergotherapeuten Hunde ein, um die Therapie zu beschleu­ni­gen, effi­zi­en­ter zu machen oder wei­te­re Benefits für Betroffene zu bewirken.

Immer öfter kom­men Hunde als soge­nann­te Therapiebegleithunde bei Ergotherapeuten zum Einsatz, sofern die Patienten und Klienten damit ein­ver­stan­den sind und Hunde mögen. „Es ist wis­sen­schaft­lich belegt, dass Streicheln, Spielen und ande­re Interaktionen mit Hunden das Stressempfinden von Menschen her­un­ter­re­gu­lie­ren. Gleichzeitig wird im Gehirn das Hormon Oxytocin aus­ge­schüt­tet, was ein Wohlbefinden erzeugt und die Konzentrationsfähigkeit erhöht“, erklärt die Ergotherapeutin Anja Junkers den Effekt von Therapiehunden. Lernen, das Entwickeln von Verhaltensstrategien und das Verankern neu­er Verhaltensmuster sind unter Stress gehemmt. Befassen sich Patienten jedoch mit dem Hund, führt das zuvor erklär­te Wirkprinzip zu Entspannung, die ergo­the­ra­peu­ti­schen Angebote kön­nen greifen.

Hund ja oder nein?
Ergotherapeuten wägen sorg­fäl­tig ab

Ob ihre Intervention mit oder ohne Therapiehund sinn­vol­ler ver­lau­fen kann, erwägt die Ergotherapeutin nach den ers­ten Terminen: Dem Anamnesegespräch, in wel­chem es um die Vorgeschichte der aktu­el­len Erkrankung oder Situation geht und einem Assessment. Die Fragen im Assessment die­nen dazu her­aus­zu­fin­den, was Patienten wich­tig ist, wel­che Aktivitäten sie durch ihre Erkrankung nicht mehr aus­üben kön­nen und wel­che Ziele sie haben. Die Ergotherapeutin stellt danach ihre Überlegungen an: „Was benö­tigt der Mensch, der gera­de vor mir sitzt – unab­hän­gig von der Diagnose, die auf sei­ner ärzt­li­chen Verordnung steht – und ist das Einbeziehen des Hundes die best­mög­li­che Herangehensweise“? Ist sie nach den ers­ten Kennenlernterminen der Meinung, die Therapie könn­te tier­ge­stützt eine posi­ti­ve Auswirkung auf ihren Patienten haben, die Qualität der Behandlung ver­bes­sern und sie effek­ti­ver ver­lau­fen las­sen, klärt sie, ob die fol­gen­den Termine in Gegenwart des Hundes statt­fin­den dür­fen. Wer bereit ist für die tier­ge­stütz­te Ergotherapie, über­legt gemein­sam mit sei­ner Ergotherapeutin oder sei­nem Ergotherapeuten, wie der Hund das Erreichen der fest­ge­leg­ten Ziele beschleu­ni­gen kann: Ist der Plan etwa, mit dem Hund raus­zu­ge­hen, U‑Bahn fah­ren zu üben oder ein­kau­fen zu gehen und durch den Hund mehr Selbstsicherheit zu erlan­gen? Dann kann die Intervention star­ten – immer mit dem Hund an der Seite.

Dem Hund zulie­be: Handlungsunfähigkeit überwinden
Die Ergotherapeutin hat ihren Therapiehund schon bei den unter­schied­lichs­ten Diagnosen ein­be­zo­gen. So etwa bei einer Patientin mit Schlaganfall, die sich selbst nichts mehr zutrau­te. Ein (Erfolgs-)Erlebnis mit dem Hund war maß­geb­lich für ihren Sinneswandel und Wendepunkt für die Therapie. An einem Schlechtwettertag hat­te die Patientin, die von sich dach­te, sie kön­ne ihren Haushalt nicht mehr selbst füh­ren, die Idee, Plätzchen für den Hund zu backen. Nach dem gemein­sa­men Einkauf mit der Ergotherapeutin buk sie und freu­te sich von Herzen über die Freude des Hundes, der die lie­be­voll her­ge­stell­ten Leckerli sehr moch­te. In der Reflexion nach der Stunde zeig­te sich die Patientin ganz über­rascht, wie leicht ihr sämt­li­che Handlungen gefal­len waren. Dadurch, dass sie selbst­stän­dig war, erhielt ihr Selbstvertrauen einen enor­men Schub – es kam eine neue Dynamik in die Therapie. Die Ergotherapeutin dazu: „Ist der Hund als Medium zwi­schen­ge­schal­tet, gibt es kei­ne Erwartungen oder Vorschläge. Der Hund steht hier­ar­chisch betrach­tet unter dem Menschen, wodurch sich Patienten selbst­wirk­sam erle­ben: Sie ent­schei­den aus einer Position der Kraft her­aus und in ihrer eige­nen Geschwindigkeit, was der Hund für sie – oder wie im Fall der Patientin mit Schlaganfall – sie für ihn tun kann“.

Hund als Türöffner: Möglichkeiten her­bei­füh­ren, die es sonst nicht gibt
Tiergestützte Ergotherapie mit HundBei Kindern kann es unge­ahn­te Effekte haben, sich mit dem Hund drau­ßen zu zei­gen. Junkers berich­tet in die­sem Zusammenhang von einem ihrer Palliativkinder, das in ein neu­es Dorf umge­zo­gen war. Die Dorfbewohner und auch alle Kinder hiel­ten von Anfang an Abstand – das Kind in sei­nem E‑Rolli mit Sauerstoffversorgung war ihnen suspekt. Doch schon der ers­te Besuch des Spielplatzes zusam­men mit der Ergotherapeutin und in Begleitung des Therapiehundes wen­de­te das Blatt: Die spie­len­den, gesun­den Kinder woll­ten ger­ne den Hund strei­cheln und kamen so mit dem Kind im Rolli ins Gespräch, frag­ten, was es hat und was der Hund tut. Durch die Annäherung über den Hund ent­stan­den Freundschaften, die von den Kindern zu den Eltern über­tra­gen wur­den. „Der Therapiehund hat in die­sem Fall das Eis gebro­chen und die Integration der gesam­ten Familie in das neue Umfeld ermög­licht, was mit der Anwesenheit einer Therapeutin ohne Hund an der Seite des Kindes ver­mut­lich so nicht ein­ge­trof­fen wäre“, schil­dert die Ergotherapeutin, wie es hier zu einem klei­nen Wunder kom­men konnte.

Dank Hund: Wende in der Therapie und neue Erkenntnisse zum Patienten
Ein wei­te­res, wirk­li­ches Wunder geschah mit einem Kind mit Autismus-Spektrum-Störung, das zeit sei­nes Lebens nicht gespro­chen hat; es war kei­ner­lei Kommunikation mit dem Neunjährigen mög­lich. Um einen neu­en Ansatz zu ver­su­chen, kam ein Therapiehund ins Spiel und um die­sen zu schüt­zen, muss­te der Junge sei­ne Schuhe aus­zie­hen. Zum gro­ßen Erstaunen der anwe­sen­den Therapeuten fing er an, mit sei­nen Füßen den Hund zu strei­cheln; im Takt der Rutenbewegungen des Hundes klopf­te er mit dem Knie auf den Boden. Nach meh­re­ren Jahren Therapie, die sich mitt­ler­wei­le mehr oder weni­ger im Stillstand befand, zeig­te sich durch die Anwesenheit des Hundes ein Weg, mit ihm zu kom­mu­ni­zie­ren. Es wur­de ver­ein­bart, wie oft er für „ja“ und wie oft für „nein“ klop­fen soll­te. Die Erkenntnis, dass der autis­ti­sche Junge sei­ne Füße ein­setz­te, um zu spie­len und in Kontakt zu kom­men, öff­ne­te den Weg, um mit ihm eine Form der Spielentwicklung zu begin­nen und ihn dadurch auch durch ande­re Therapieformen zu för­dern. Er konn­te mit Logopädie begin­nen und mit Musiktherapie.

Weiterbildung zur tier­ge­stütz­ten Ergotherapie: von Ergotherapeutin zu Ergotherapeut:in
Anja Junkers hat eine Übersicht ent­wi­ckelt, die sie ger­ne an die Teilnehmenden ihrer Weiterbildungsveranstaltungen wei­ter­gibt. Mithilfe die­ser Matrix klärt sie auch für sich selbst, wann der Einsatz des Hundes die rich­ti­ge Entscheidung ist. „Das ist die zen­tra­le Frage“, betont sie. Neben den für die ergo­the­ra­peu­ti­sche Intervention und mög­li­che Herangehensweisen wich­ti­gen Informationen spricht die Ergotherapeutin bei ihren Veranstaltungen über die recht­li­chen Aspekte, die zu beach­ten sind. Ebenso geht es auch dar­um, wie die Hunde aus­zu­bil­den sind – das ist eine grund­le­gen­de Voraussetzung – und wie ihr Einsatz, auch zeit­lich, aus­se­hen soll. Dabei spie­len tier­ethi­sche Überlegungen eine gro­ße Rolle, denn der Arbeitseinsatz eines Tieres soll­te nie auf des­sen Kosten gehen. Schließlich ist der Hund Co-Therapeut und soll neben sei­nem Job als sol­cher auch aus­rei­chend Zeit haben, um sei­ner Hauptaufgabe nach­zu­ge­hen: Hund sein. Nur wenn er genau­so ent­spannt und glück­lich ist, wie er die Patienten ent­spannt und glück­lich macht, wird aus der tier­ge­stütz­ten Ergotherapie mit Hund eine run­de Sache.

Informationsmaterial zu den viel­fäl­ti­gen Themen der Ergotherapie gibt es bei den Ergotherapeuten vor Ort; Ergotherapeuten in Wohnortnähe unter dve​.info/​s​e​r​v​i​c​e​/​t​h​e​r​a​p​e​u​t​e​n​s​u​che.