Fragen zur Aggression
von Prof. Manfred Wolff
- Mein Hund greift mich an, beißt mich sogar.
- Mein Hund greift erwachsene Familienmitglieder an.
- Mein Hund greift (meine) Kinder an.
- Mein Hund greift fremde Menschen an.
- Mein Hund greift unseren anderen Hund / unsere Katze an.
- Mein Hund greift auf Spaziergängen andere Hunde an.
- Mein Hund jagt Katzen und Hühner.
⇒ Sofortmaßnahmen
⇒ Kurzfristige Maßnahmen
⇒ Mittelfristige Spezialmaßnahmen
⇒ Theoretischer Hintergrund
⇒ Literatur
Sofortmaßnahme bei „Mein Hund beißt mich“
Bei allen Angriffen gegen Sie erstarren Sie sofort in der Haltung, in der Sie sind (tot stellen). Wenn die Spannung des Hundes nachgelassen hat, lassen Sie ihn etwas, was er sicher kann, machen (freundlich „Sitz“), gehen Sie danach normal mit ihm um.
Auf keinen Fall dürfen Sie mit dem Hund kämpfen. Dies ist einmal zu gefährlich, zum anderen wird Ihr Verhalten als Rangkampf aufgefasst, den Sie vielleicht dieses Mal gewinnen, der aber das nächste Mal bei passender Gelegenheit wiederholt wird!
Sofortmaßnahmen bei „Mein Hund beißt meine Kinder“
Lassen Sie Hund und Kinder möglichst nie ohne Erwachsenenaufsicht. Wenn es unumgänglich ist, benutzen Sie einen Maulkorb und bitten die Kinder, den Hund zu ignorieren.
Sofortmaßnahme beim Angriff auf fremde Hunde
Entfernen Sie sich möglichst unauffällig und lautlos bis auf mindestens 200 m von der Stelle, an der Ihr Hund den anderen angegriffen hat. Verstecken Sie sich oder hocken Sie sich hin und warten Sie ab. Ihr Hund sollte unsicher werden und Sie suchen. Wenn er kommt, leinen Sie ihn an und kümmern sich um den anderen Hund und seinen Besitzer. Wenn Ihr Hund nicht kommt, handelt es sich um einen besonders ernsten Unglücksfall. Dann stimmt unter Umständen auch das Verhältnis zwischen Ihrem Hund und Ihnen nicht! Suchen Sie einen Tierverhaltenstherapeuten auf.
Kurzfristige Maßnahme in allen Fällen
Meiden Sie die Situationen, in denen der Hund das unerwünschte Verhalten zeigen kann, bis Sie es ihm (durch Gegenkonditionierung) abtrainiert haben.
I. Fröhliches und konsequentes Gehorsamstraining
Zum Grundgehorsam gehören ‚Sitz’, ‚Platz’, ‚Sitz bleib’ (in beiden Fällen entfernen Sie sich um etwa 50 m oder gehen kurzfristig in ein anderes Zimmer), ‚Sitz’ und ‚Platz’ aus der Entfernung (aus etwa 50 m mit Hör- und Sichtzeichen), ‚Hier’ (Hund muss zuverlässig aus 200 m Entfernung kommen) und ‚Bei mir’ (Hund bleibt im Umkreis von 3 m bei Ihnen, respektíve geht ohne zu zerren an einer 2m-Leine). Der Grundgehorsam muss ständig geübt werden, zum Beispiel vor jeder Fütterung ein ‚Sitz-Bleib’ oder ‚Platz-Bleib’, beim Spaziergang mindestens jedes Verhalten einmal trainieren.
Konsequent heißt: Es passiert nichts, bevor das Verhalten gezeigt wurde.
Fröhlich heißt: Die Übungen gehören zum Spiel mit Ihnen, die Hörzeichen werden freundlich (klare und hohe Stimme) und ruhig gegeben (zählen Sie bis 10 bevor Sie das Hör- oder Sichtzeichen wiederholen), der Hund wird unregelmäßig belohnt (durch Schnüffeln lassen, Streicheln, Lobwort, Leckerle usw.).
II. Umsichtiges Führen
Lassen Sie sich von möglichst keiner Situation überraschen. Im Wiesen- oder Parkgelände lassen Sie ständig Ihre Aufmerksamkeit schweifen und rufen den Hund zu sich, wenn Sie eine mögliche Reizsituation vorausahnen. Bei unübersichtlichem Gelände lassen Sie den Hund ‚Sitz Bleib’ machen und erkunden erst den Weg. Dann rufen Sie den Hund zu sich.
III. Gegenkonditionierung
Unter Gegenkonditionierung versteht man den Aufbau eines gewünschten Verhaltens (sozusagen eines „Ersatzverhaltens“) aufgrund eines Reizes, der ursprünglich zu unerwünschtem Verhalten führte.
Beispiel: Ursprünglich jagte der Hund hinter Joggern her, jetzt setzt er sich, wenn er Jogger sieht.
Die Gegenkonditionierung funktioniert optimal, wenn der Hund den Grundgehorsam bereits hat. Sie schließt die sogenannte Desensibilisierung mit ein.
Aufbau der Gegenkonditionierung
Der Hund muss das von Ihnen gewünschte Verhalten schon auf Zeichen hin in normalen Situationen zeigen können. Nehmen Sie deshalb ‚Sitz’ aus der Entfernung’, oder ‚Platz’ oder ‚Hier’ als das von Ihnen gewünschte Ersatzverhalten.
Sie führen Ihren Hund nun in eine Situation, in der der Reiz sehr schwach ist (fremder Hund oder Jogger oder Katze sind weit weg, der Hund bemerkt sie kaum). Sie lassen den Hund das von Ihnen gewünschte Ersatzverhalten machen (immer dasselbe, also beispielsweise immer ‚Sitz!’) und belohnen ihn danach besonders. War der Reiz schon zu stark, so lenken Sie den Hund durch besonders gute Leckerli oder attraktives Spielzeug ab. Steigern Sie langsam den Reiz (Sie sind immer näher am Jogger oder fremden Hund oder an einer Katze). Bei Rückfall ignorieren Sie sein unerwünschtes Verhalten und gehen wieder in wesentlich größere Entfernung.
IV. Das geistige „Halti“
Die Übung besteht darin, dass der Hund auf Hörzeichen ‚Zurück’ seinen Kopf zu Ihnen wendet, egal, was er sonst macht. Damit wird der Kontakt zum bisherigen Gesichtsfeld unterbrochen und der Hund für kurze Zeit (Millisekunden) auch in Gefahr ansprechbar.
Wir beginnen in reizarmer Umgebung, haben den Hund angeleint und bleiben ruhig stehen. Sobald er den Kopf zu uns dreht, belohnen wir ihn. Später sagen wir dabei das Hörzeichen ‚Zurück’. Nach einer Weile sagen wir erst das Hörzeichen. Erfolgt die Kopfbewegung, so belohnen wir wieder, bis das Hörzeichen absolut sicher befolgt wird. Nun erst (!) wiederholen wir die Sache in Gegenden mit sehr schwacher Ablenkung. Diese Übung muss sehr langsam gesteigert werden. Bitte benutzen Sie das Hörzeichen während der Aufbauphase nie, wenn die Ablenkung zu stark ist.
Hund greift Hundeführer oder Familienmitglieder an
Richtet der Hund sich dabei auf, widersetzt er sich Anweisungen? Steht sein Schwanz dabei hoch? Befindet sich der Hund dabei in Konkurrenz zu einem Familienmitglied ⇒ (dominantes Verhalten) ODER sind Sie oder das Familienmitglied dem Hund sehr nah gekommen, hat er den Schwanz eingezogen, die Ohren nach hinten gelegt oder war seine Reaktion eher panisch ⇒ (ängstliches Verhalten)?
Hund greift fremde Menschen an
Sind diese dem Hund sehr nahe gekommen, wollten sie den Hund streicheln? Zeigte er dabei Schnappen oder wildes Beißen. War der Schwanz eher unten, die Ohren nach hinten gelegt ⇒ (Angst vor Fremden) ODER „verteidigt“ der Hund Ihr Grundstück oder Sie? Rennt er vorwärts zu dem Fremden hin ⇒ (aktive Aggression gegen Fremde)?
Mittelfristige Spezialmaßnahmen
Hund greift Hundeführer oder Familienmitglieder (einschl. Kinder) an
In der Familie hilft im Fall des dominanten Verhaltens das konsequente ⇒ Gehorsamstraining sowie die eindeutige Reihenfolge:
- Der Hund erhält immer nach der Familienmahlzeit sein Futter.
- Sie spielen mit ihm nur, wenn Sie ihn dazu auffordern.
- Sie gehen immer als Erste® durch jede Tür. Wenn es klingelt und der Hund zur Tür rennt, lassen Sie ihn absitzen, bevor Sie öffnen.
- Allgemeiner lassen Sie ihn bei allen möglichen Gelegenheiten erst ‚Platz’ oder ‚Sitz’ machen, bevor er etwas tun darf, was er möchte.
- Achten Sie darauf, dass die Kinder den Hund nicht provozieren, auch nicht unabsichtlich. Erziehen Sie die Kinder zu einem vernünftigen Umgang mit dem Hund.
Bei Vorliegen von ängstlichem Verhalten müssen Sie dem Hund zusätzlich Sicherheit geben, etwa durch den Tellington-Touch, durch viel Ruhe, Freundlichkeit und Gleichmaß im Alltag und durch vorsichtiges ⇒ Gehorsamstraining (nicht überfordern).
Hund greift fremde Menschen an
Angst vor Fremden
Hier hilft Desensibilisierung in der folgenden Form: Bitten Sie den Fremden (es genügt ersatzweise ein entfernter Bekannter), sich teilnahmslos hinzuhocken, den Kopf vom Hund abzuwenden, den Arm auszustrecken und in der ausgestreckten Hand ein gutes Leckerli zu halten. Sie führen den Hund zielstrebig, aber absolut ruhig an das Leckerli heran und lassen es ihn aus der Hand nehmen. Führen Sie den Hund wieder weg und loben ihn. Wiederholen Sie diese Übung ein paar Mal sofort, dann mit anderen „Fremden“.
Im nächsten Schritt steht der andere, sonst läuft die Übung wie oben. Im darauffolgenden Schritt schaut der Fremde den Hund unauffällig an, sonst läuft die Übung wie oben. Schließlich geht der Fremde ohne Leckerli am sitzenden Hund vorbei. Bleibt der Hund ruhig, wird er anschließend belohnt.
Dieses Training kann je nach der Vorerfahrung des Hundes sehr lange dauern. Genauso können Sie Ihren Hund an andere Hunde gewöhnen, falls Ihr Hund vor jenen Scheu oder Angst hat.
Aktive Agression
Hier hilft die ⇒ Gegenkonditionierung in der im allgemeinen Teil beschriebenen Form. Aber schauen Sie auch, ob bei dem Vorstürmen Angst eingeschlossen ist (eher geduckte Körperhaltung, Angriff von hinten). Dann lesen Sie ⇒ Angst vor Fremden.
Hund greift unseren anderen Hund / unsere Katze an
Ihr Hund greift Ihren anderen Hund an
Halten Sie bei allen Aktionen wie Füttern, Bürsten, Streicheln, Anleinen zum Spazierengehen, aus der Wohnung / dem Haus lassen, ins Auto lassen, immer die gleiche Reihenfolge ein: erst Sie, dann der Ältere beziehungsweise länger bei Ihnen Seiende, dann der zweite. Beschäftigen Sie beide Hunde durch freundliches, konsequentes ⇒ Gehorsamstraining. „Bestrafen“ Sie den „Aggressor“ nicht. Bei heftiger, wiederholter Beißerei benutzen Sie vorübergehend einen Maulkorb für beide. Nehmen Sie eine ⇒ Gegenkonditionierung vor.
Ihr Hund greift Ihre Katze an
Auch hier legen Sie die Reihenfolge fest: Erst Sie, dann das Tier, das länger bei Ihnen ist, dann das andere Tier. Lassen Sie die Tiere nie ohne Aufsicht zusammen. Nehmen Sie eine ⇒ Gegenkonditionierung vor. Beschäftigen Sie den Hund durch freundliches, konsequentes ⇒ Gehorsamstraining.
Hund greift auf Spaziergängen andere Hunde an
Wenn der Hund nur ängstlich oder ärgerlich auf Belästigungen von anderen reagiert, meiden Sie die Situationen. Gewöhnen Sie Ihren Hund an, andere durch ⇒ Desensibilisierung und Besuch eines vernünftigen Hundeplatzes für Familienhunde (Turnierhundesport oder Agility- oder Familienhund-Kurs). Wenn Ihr Hund angriffslustig zu anderen rennt, nehmen Sie die ⇒ Gegenkonditionierung wie bei Joggern vor.
Hund jagt Katzen und Hühner
Hier hilft Umsicht und ⇒ Gegenkonditionierung. Außerdem hilft das Hörzeichen ‚Zurück“ ⇒ Halti.
Man unterscheidet eine ganze Reihe von verschiedenen Aggressionstypen, die aber zum Teil gleich behandelt werden:
- Beute-Aggression – zum Beispiel Hühner, Katzen und Jogger jagen, aber auch sehr kleine andere Hunde totbeißen, sie werden als Beutetiere angesehen,
- Angst-Aggression – zum Beispiel plötzliches Beißen beim Bedrängtwerden durch andere Menschen, insbesondere durch unachtsame Kinder oder aber auch durch andere Hunde,
- Dominanz-Aggression – bei unsicherer Rangstellung innerhalb der Familie,
- Besitz-Aggression – Beißen bei Abnahme eines Knochens oder Spielzeugs,
- Revierverteidigung – zum Beispiel Verteidigung des Hauses gegen Briefträger, aber auch Aggression gegen andere Menschen und Hunde auf dem täglichen Spaziergang; das Terrain wird unter Umständen als Revier angesehen,
- Sexuelle Aggression – Rüden-Kämpfe um Hündinnen, Hündinnen-Kämpfe gegeneinander,
- „Wut“-Syndrom – kommt zum Beispiel bei roten Cocker-Spaniels gehäuft vor, praktisch nicht behandelbar.
Die meisten Aggressionsformen sind genetisch fixiert. Sie lassen sich also nicht endgültig „wegbehandeln“, sondern nur sehr gut kontrollieren. Dazu dienen die oben vorgeschlagenen Maßnahmen, die immer wieder einmal wiederholt werden sollten. Für eine Vertiefung lesen Sie die angegebene Literatur oder fragen Sie Ihren Tierarzt.
- Henry R. Askew: Behandlung von Verhaltensproblemen bei Hund und Katze, Paray Verlag Berlin 1997
- Gudrun Feltmann-von Schroeder: Hund und Mensch im Zwiegespräch, Kosmos Verlag Stuttgart 1993
- Valerie O’Farrell: Manual of Canine Behaviour, Britisch Small Animal Veterinary Association, Nachdruck der 2. Auflage 1996